…sie verkaufen ihre Betten und schlafen im Stroh

Vorurteile gegenüber „Zigeunern“ kennt jeder und hat vielleicht jeder. Als meine Mutter Kind war, hieß es Zigeuner stehlen die Wäsche von der Leine. Heutzutage heißt es auf einer Bürgerversammlung in Essen Haarzopf, Roma klauten Pflanzen aus den Vorgärten und zerwühlten den Müll. Dass Roma Diebesgesindel sei, welches in Großfamilien nach Deutschland kommt, um auf Kosten des heimischen Steuerzahlers zu überwintern und satt und zufrieden in die Heimat zurückzukehren, den Sommer über zu faulenzen und zu klauen und dann erneut bei uns einzukehren, um die erhöhten Asylsätze abzugreifen. Das klingt zugegebenermaßen überspitzt, spukt aber augenscheinlich schemenhaft in vielen Köpfen.

 Man hört es an Fragen wie: „Was kostet eigentlich so ein Flüchtling?“ Roma-Flüchtlinge machen deutschen Bürgern Angst. Sie fürchten um ihre Koniferen, die ruhige Nachbarschaft und den Zustand ihrer gelben Tonne. Das muss man ernst nehmen, denkt die Stadtverwaltung und schickt den Sozialdezernenten auf eine undankbare Tournee durch betroffene Essener Stadtteile, vornehmlich im gut situierten Süden. Er soll die besorgten Bürger informieren über Erweiterungen von Asylunterkünften, aktuelle Zahlen, Bürgertelefone

und weitere geplante Sicherheitsmaßnahmen. Unterstützt wird er von Vertretern der lokalen Polizeistationen.

Nein, antwortet der Polizist auf die Frage eines Bürgers, es gibt keine besonderen polizeilichen Vorkommnisse in der Nähe von Flüchtlingsunterkünften. Das hilft leider gar nicht, um die ach so ängstlichen, vor allem aber aufgebrachten Bürger in Kupferdreh zu beruhigen. Auch ich bin aufgewühlt und empört.

 

In Haarzopf findet die Versammlung in einer Kirche statt. Dass dort niemand in Sorge ist, wegen medizinischer Versorgung oder hygienischer Bedingungen oder überhaupt die Zustände der Unterbringung hinterfragt, bringt mich zu der Frage, die ich laut stelle: „Heißt ‚christliche Sorge‘ Sorge um sich selbst?“

Just am Martinstag rufen in Kupferdreh aufgebrachte Anwohner und eine Hand voll rechtsextremer Jungspunde zu einer Kundgebung auf, bei der sie Lichter anzünden wollen, gegen den Umbau einer alten Schule zu einer Flüchtlingsunterkunft.

Wenige Wochen zuvor haben sich ebenfalls bei einer Bürgerversammlung in Essen-Schönebeck die Gemüter erhitzt.

Anwohner machen ihrem Ärger Luft, dass die Turnhalle der Anne Frank Schule kurzfristig für begrenzte Zeit als Übergangslager

für Roma-Flüchtlinge aus Serbien und Mazedonien dienen soll. Unbehagen stellt sich bei einigen ein, als sie aus ganz rechter

Ecke unterstützt werden.

Am 19.Oktober rufen Nazis zu einer Demonstration gegen die Roma-Flüchtlinge in der Lohstraße auf. Es gibt eine Gegenveranstaltung

der Antifa. Ich treffe mich mit ca. 30 Demonstranten zu einer Solidaritäts-Kundgebung vor dem Eingang zur Turnhalle unter dem Motto „A-Roma-B-raus-E: Menschenliebe statt Fremdenhass“.

 

Tags zuvor hat mir der Leiter des DRK, welches die Unterbringung maßgeblich organisiert, erzählt, dass vermutlich Kinder die Kreideparole vor der Schule kurzfristig umgetextet haben. Ein schönes Motto für eine Demo, finde ich.

Wir sind nicht viele, aber halten Reden, kommen mit den Anwohnern ins Gespräch – hinterlassen Kreidebotschaften.

„Occupy“ heißt für menschliche und aufklärerische Werte einzustehen. „Menschen vor Profit“ ist einer der Leitsprüche der Bewegung.

Sich für Flüchtlinge einzusetzen, ist für viele Occupy-Aktivisten eine wichtige Aufgabe. In Berlin sind es hauptsächlich Occupy-Aktive, die die Flüchtlingsproteste am Brandenburger Tor unterstützen. Es ist für viele von uns ein Hauptmotiv, Veränderung von sich selbst zu erwarten.

 

In den kommenden zehn Tagen besuche ich fast täglich die 60 Flüchtlinge, die auf Feldbetten in der Turnhalle untergebracht

sind. Zunächst spiele und male ich mit einigen der ca. 20 Kinder, dann lerne ich nach und nach die Mütter und Väter kennen.

Einige sprechen Deutsch oder Englisch. Nach einigen Tagen erfasse ich die Lage in der Turnhalle ansatzweise. Am meisten

fehlt es an Kommunikation von behördlicher Seite.

Während draußen am Tor, von hilfsbereiten Anwohnern, zahlreiche Kleider- und Spielzeugspenden abgegeben werden, kommt nur ein Bruchteil in der Turnhalle an. Der Rest wird aus Brandschutzgründen am dritten Tag mit DRK Wagen abtransportiert. Eine Mutter steht mit ihrem Kind am Tor und möchte ein Kuscheltier verschenken, wird aber abgewiesen, weil das Wachpersonal Anweisung hat, keine Spenden mehr anzunehmen. Dabei mangelt es an einfachen Dingen. Spricht man mit den Menschen und fragt was ihnen fehlt, wünschen sie sich Waschmittel und Leinen, weil sie die Kleidung mit der Hand waschen. Sie fragen nach Obst, weil es doch morgens und abends immer Brot und Salami gäbe und einige der Kleinkinder bereits Verstopfung hätten. Auch beim Mittagessen fehlt es an Gemüse. Putzmittel wünscht sich eine junge Frau.

Die einzige Toilette wird zwar so gut wie täglich von Personal geputzt, aber bei so vielen Menschen käme es schon mal zu kleinen Katastrophen. Ich besichtige das eine Schulklo der Turnhalle, es ist sauber, aber der Geruch treibt einem die Tränen in die Augen. Die Mütter der Babys wünschen sich gebrauchte Kinderwagen. Mithilfe einiger engagierter Helfer, darunter der 15-jährige Raphael, gelingt es uns Kinderwagen, eine Matratze für die Hochschwangere, Obst und Gemüse von der Tafel und andere Dinge zu besorgen. In den nächsten Tagen werden einige Kinder krank, leiden an Husten, Fieber, Erbrechen. Die DRK-Leute vergeben Medikamente. Ein Arzt kommt aber nicht in die Turnhalle. Erst als die Beschwerden eine Notfallbehandlung erfordern, werden die Kinder ins Krankenhaus gebracht.

 

Die Uhr in der Turnhalle ist stehen geblieben. Die Zeit vergeht nicht in diesem einen Raum, indem die Luft zum Schneiden ist

und das Licht grell. Der 20-jährige Leon schildert mir, wie er daheim als zigeunerisch bespuckt und seine Frau geschlagen wird, dass er keine

Arbeit und keine Wohnung bekommt. Nie wieder geht er nach Serbien zurück, eher möchte er sterben. Leon träumt davon Automechaniker

zu werden. Ich lerne schnell, sagt er. Niemand von offizieller Seite spricht in diesen Tagen mit den Asylbewerbern und erteilt Auskunft über das weitere Vorgehen der Behörden. Sie wissen nicht, wie lange sie dort bleiben sollen und was die nächste Station sein wird. Das zerrt an den

Nerven. Ich weiß es auch nicht, kann nur weitergeben, was ich in der Zeitung lese, dass der Aufenthalt nur bis Ende Oktober geplant sei.

Am letzten Oktoberwochenende wird die Hälfte der Flüchtlinge mit Zügen in andere Bundesländer verschickt. In Eisenhüttenstadt

hat man versäumt, die Roma-Familie am Bahnhof abzuholen und zur Sammelunterkunft zu begleiten. Sie verbringen

die Nacht im Freien und rufen verstört bei ihren Bekannten in der Turnhalle an. Der Rest der Flüchtlinge aus der Lohstraße

wird zwei Tage später in ein überbelegtes Übergangsheim in Schöppingen bei Münster gebracht und von dort aus in NRW verteilt.

Leon, seine Frau und sein Sohn bekommen eine kleine Wohnung in einem Dorf zugeteilt. Am Telefon klingen sie voller Hoffnung, erzählen von der Anhörung in Dortmund. Am 13. Dezember kommt ein dicker Stapel Papiere mit dem Abschiebebescheid. Die Frist für eine Klage beträgt eine Woche, für die Ausreise vier Wochen. Leon war inzwischen in der Psychiatrie. Er muss starke Medikamente nehmen, um

die schweren psychischen Auswirkungen einer Depression zu mildern. Er leidet an Angstzuständen, Schlafstörungen und Halluzinationen. In Serbien ist er nicht krankenversichert und hat keinen Zugang zu Medikamenten. Das ist für Roma sehr schwierig, erzählt er mir. Wenn sie abgeschoben werden, stehen sie vor dem Nichts.

Unter dem Protokoll der Anhörung seiner Frau steht der knappe Vermerk: „Nicht glaubwürdig“.

 

 

Der Artikel kann als PDF hier runtergeladen werden/ Essener Morgen (Seite 9)

 

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