Obdachlosigkeit im Visier Essener Ordnungspolitik

In Essen hat der Stadtrat Ende März mehrheitlich dem Antrag der GroKo zugestimmt, die „Trinkerszene“ am Willi Brandt Platz kurzfristig zu verlagern.

Unter TOP 15 hier zum Nachschauen: „https://www.essen.de/rathaus/rat/Ratssitzung_archiv.de.html

Dieser Antrag wurde über den Ausschuss für öffentliche Ordnung und mit Zuständigkeit des Ordnungsdezernats beraten und am 27.3. im Rat beschlossen. Die Sozialverträglichkeit der ordnungspolitischen Maßnahme soll allein durch die Absicht im Antrag der möglichen Einbindung der Wohlfahrtsverbände garantiert werden. Ob diese damit einverstanden sind, steht auf einem anderen Blatt.

Die Begründungen der GroKo Politiker (Endruschat/SPD, Schrumpf CDU) zum Antrag ignorieren soziale Ursachen und reproduzieren die Vorurteile, die schon mit dem Begriff „Trinkerszene“ transportiert werden, als einen Störfaktor des öffentlichen und privaten Raumes, der in Essen dem angenehmen EInkaufen gewidmet ist und seit Jahren von den „20 Saufbrüdern“ gestört wird, die zudem unkontrolliert urinieren und die Ursache von Konflikten darstellen.

Die heterogene Gruppe, der oft mehrfach suchterkrankten Wohnungslosen wurde unter diesen Gesichtspunkten simpel zusammen gefasst.

Die Frage nach sozialen und strukturellen Ursachen von Obdachlosigkeit, auch in Essen, wurden bewußt ausgeklammert.
Die Perspektive der beschriebenen „Akteure“ war einzig die der Anwohner und des Einzelhandels als „Opfer“ der Störung der öffentlichen Ordnung.

Inwiefern Obdachlose täglich Opfer eines feindlichen Umfeldes sind wurde nicht im Ansatz thematisiert.

Aktuelle Medienberichte zur Polizeistatistik, aufgrund einer Anfrage der Piratenfraktion im Landtag, ergeben eine relativ hohe Zunahme von Gewalt gegenüber Obdachlosen.

Unter den Risiko-Opfergruppen der Gewaltkriminalität/ Obdachlosen stieg die Zahl der Opfer in NRW von 43 2013 auf 126 in 2014.

(„https://www.polizei.nrw.de/artikel__10952.html„)
(„http://www.derwesten.de/region/gewalt-gegen-obdachlose-in-nrw-nimmt-zu-id10526419.html„)

„Sozialsystem produziert Wohnungslosigkeit
Es sind oft Schicksalsschläge, die dazu führen, die eigene Wohnung nicht mehr halten zu können. Doch diese biografischen Ereignisse würden Menschen nicht in die Obdachlosigkeit treiben, wäre das Sozialsystem und Wohnungspolitik besser, sagt Stephan Nagel, Fachreferent für Wohnungslosenhilfe der Diakonie Hamburg. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge geht noch einen Schritt weiter: das Sozialsystem produziere Wohnungslosigkeit, sagte er bei einer Tagung der Evangelischen Obdachlosenhilfe in Nürnberg.

Die Auswirkungen politischer Maßnahmen zeigen sich auf der Straße schnell. Weil Hartz-IV-Empfänger, bis sie 25 Jahre alt sind, keinen Anspruch mehr auf eine eigene Wohnung haben, landen mehr Jugendliche auf der Straße.
Der Staat hat verfügt, dass sie bei ihren Eltern bleiben sollen. Das lässt die Situation zu Hause aber nicht immer zu.“
(Quelle: „http://www.taz.de/!125391″)

Laut Armutsbericht des paritätischen Wohlfahrtsverband ist Essen ein Sorgenkind der Armutsstatistik.

Eine Anfrage der Fraktion PARTEIPiraten im Sozialausschuss Essen zum Controllingbericht des Jobcenters Essen ergab:

„Rund 95 % (543 Fälle) aller 100%  Sanktionen wurden gegen unter 25-jährige Personen ausgesprochen.
Leistungsempfänger unter 25 Jahren unterliegen gemäß § 31a, Abs. 2 SGB II verschärften Sanktionsandrohungen, wenn sie gegen ihre Verhaltenspflichten (etwa zum Arbeitsantritt) verstoßen. Schon bei einmaliger Pflichtverletzung entfällt für die Dauer von drei Monaten der Bezug der Regelleistungen.“

Für das Berliner Forum Gewaltprävention schrieb der Autor Christian Linde bereits 2004 in einem Aufsatz über Wohnungslose als Opfergruppe:

„Dass Gewalt für Wohnungslose eine Gefahr bedeutet, wird in der Öffentlichkeit dennoch kaum wahrgenommen. Erst nach Morddelikten wandte sich der Blick im Windschatten massiver rechtsradikaler Übergriffe auf Ausländer kurzzeitig auf diese Opfergruppe. Dabei ist Gewalt gegen Obdachlose seit Jahren an der Tagesordnung. In einer Ende 2000 vorgelegten „Bilanz eines Jahrzehnts der direkten und strukturellen Gewalt gegen Wohnungslose“ bezifferte die BAG W mehr als Hundert Menschen als Opfer von Gewalttätern außerhalb der „Wohnungslosenszene“.
Ursachen der strukturellen und direkten Gewalt
Eine der Hauptursachen für die Gewaltentwicklung ist die zunehmende Privatisierung des öffentlichen Raumes und die damit verbundene Verdrängung und Vertreibung aus den Innenstadtbereichen. Instrumente dieser Politik sind von staatlichen Institutionen und privatwirtschaftlicher Seite entwickelte „Sicherheitsstrategien“. Den Auftakt dieser Vertreibungspolitik bildete die vom ehemaligen Innenminister Kanther 1987 ins Leben gerufene „Aktion Sicherheitsnetz“, nach der „die Verteidigung der öffentlichen Ordnung gegen Pennertum, Bettelei und Milieus der Unordnung“ oberste Priorität habe.“
(Quelle: https://www.berlin.de/imperia/md/content/lb-lkbgg/bfg/nummer16/20_linde.pdf?start&ts=1182169161&file=20_linde.pdf„)

Einzelne Maßnahmen dürfen nicht ohne den Kontext bewertet und beschlossen werden. Hartz 4- Sanktionen, Platzverweise und andere institutionalisierte, autoritäre Gewaltakte sind jedenfalls keine Lösung für die soziale Spaltung der Kommune, mit beängstigend wachsender Kinder und Jugendarmut. Die Perspektive der Armen und Schwachen ohne Lobby muss dringend in den politischen Alltag von Rat und Verwaltung direkt integriert werden. Die Einbindung von Wohlfahrtsverbänden nach ordnungspolitischen Vorgaben ist dafür kein Ersatz und keine Lösung.

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