Cécile Lecomte -Das Eichhörnchen im Interview – Februar 2014

Die Essener Künstlerin Anabel Jujol traf in Essen die Kletteraktivistin Cécile Lecomte, genannt „Das Eichhörnchen“, zu einem Gespräch
über subversive Kletterkunst und kreative Kapitalismuskritik in Zeiten der Energiewende
Cécile Lecomte machte im Rahmen ihrer Lesereise zu ihrem ersten Buch „Kommen Sie da runter“ am 13. Februar 2014 auch Station in Essen.
Circa 50 interessierte BesucherInnen kamen in die kleine Atelier-Galerie KARO Kunst in der Kasteienstraße, um „Das Eichhörnchen“ zu hören. Sie spendeten lebhaften Beifall. Hier eine gekürzte Zusammenfassung des Interviews.

Anabel Jujol: Cécile, „Kommen Sie da runter“ ist Dein erstes Buch. Du hast es auf Deutsch geschrieben. Welche Rolle spielt Sprache in Deinem Protest, und wie wichtig ist Dir Dein Umgang mit Worten und Begriffen? Nehmen wir das Stichwort: Gefahrenabwehr.

Cécile Lecomte:
Meine Muttersprache ist ja Französisch und ich hab erstmal Fremdsprachen studiert. Dazu bin ich zunächst nach Deutschland gekommen, denn ich bin der Meinung, das geht nur im Lande. Weil ich die Sprache und die Menschen mag bin ich auch gerne geblieben. Basis für meine Arbeit ist eigentlich internationale Vernetzung. Und Vernetzung zwischen Frankreich und Deutschland heißt auch, Sprachbarrieren zu überwinden. Es geht nicht um reine Übersetzung, sondern auch um den kulturellen Kodex, der dazu gehört. Also „Gefahrenabwehr“, ein typischer Begriff aus diesen Polizeigesetzen, die Ende der 1990er Jahre/Anfang der 2000er Jahre in zahlreichen Bundesländern verabschiedet worden sind. Es geht darum, dass man präventiv gegen Menschen vorgehen kann. Platzverweis ist vielleicht das Bekannteste, aber man kann Menschen auch präventiv zur Gefahrenabwehr in Ge wahrsam nehmen, und zwar bis zu mehreren Tagen. Dazu müssen die Menschen gar nichts gemacht haben. Die Polizei muss nur eine Gefahrenprognose erstellen, also sagen, wie gefährlich Du angeblich bist und dann in dem Konjunktiv II, in der Möglichkeitsform, sagen, dass Du in einigen Tagen das und das vor hast, das muss ja gar nicht stimmen, sie müssen nur belegen, dass es sehr wahrscheinlich ist.Das ist schon sehr merkwürdig in einem Rechtsstaat, dass man Leute einfach so festnehmen kann, ohne dass sie irgendwas gemacht haben, das muss ich zugeben. Ich kann Gefahrenabwehr auf Französisch erläutern. Das kann man schon wörtlich übersetzen, aber dann können die Leute damit nichts anfangen. Man muss dazu sagen, dass es hier entsprechende Polizeigesetze gibt. Wenn ich den Leuten sage, ich war vier Tage im Gewahrsam, im Polizeigewahrsam, denken sie dann eher an ein Gefängnis. Nein, das ist Polizeigewahrsam, das ist nur präventiv, und das versteht in Frankreich keiner. Vier Tage Polizeigewahrsam ist dort nur bei Terrorismus verdacht möglich. Und da muss man schon ganz andere Belege in der Hand haben.

Anabel Jujol:
Für mich ist ja das, was Du machst, auch Gefahrenabwehr. Insofern ist der Begriff doppeldeutig. Wenn Du versuchst, einen Castortransport aufzuhalten, ist es nicht auch eine Form der Gefahrenabwehr?

Cécile Lecomte:
Genau. Das Buch setzt sich sehr viel da mit auseinander, was ist denn Gefahr. Das kommt natürlich auf die Perspektive an. Ich bin der Meinung, dass Klimawandel durch Klimakiller, Kohlekraftwerke usw. oder eben auch Castortransporte oder Atomkraftwerke die ei gentliche Gefahr sind für uns Menschen, weil das einfach unsere Lebensgrundlage bedroht und zerstört. Der Staat ist der Meinung, dass er diese Nutzung der Energiequellen durchsetzen muss, auch gegen den Willen von sämtlichen Menschen und greift zu solchen autoritären Maßnahmen, die man eigentlich eher in Willkürstaaten sieht. Das nennt man Demokratie, aber ich nenne das Demokratur. Das hat den Schein der Demokratie und dabei ist alles eine vorgegebene Staatlichkeit, denn es gibt für alles ein schönes Gesetz und so, aber diese Gesetze ermöglichen Willkür. Denn, was ist denn das? Eine Gefahrenprognose? Das ist immer Auslegungssache. Also die Polizei sagt, ich bin gefährlich, weil ich da und dort einen Redebeitrag gehalten habe oder Straßentheater an einem Zwischenlager gespielt habe. Die Polizei sagt ich bin gefährlich, weil ich so oft angetroffen werde, dann bin ich auch gefährlich, und damit setzt sie sich durch bis vor Gericht. Dort ist man dann entsprechend befangen. Zum Beispiel in Lüneburg: Wenn der Castor kommt, geht es um Polizeieinsätze mit über Tausend Polizeibeamten. Da sind die Richter schon befangen. Das ist eine politische Entscheidung, letztendlich, die dann dabei rauskommt. Du hast keine Chance.

 

Wie es mir dort ergangen ist, mit einem Polizeipräsidenten, der die Fäden zieht und sagt, die wollen wir festnehmen, die nervt, und die Gefahrenprognose ist klar, denn da und da hat sie das gemacht, ist sie auf eine Baum geklettert, hat einen Redebeitrag gehalten, das reicht schon, das erzähle ich auch in meinem Buch. Dann gibt es Richter, die führen formal eine Anhörung durch, die Beschlüsse haben sie aber bereits vor der Anhörung geschrieben, darin erzählen sie, wie renitent und uneinsichtig Du bist, und das war’s.


Anabel Jujol:
Als Aktivistin hast Du auch viel mit Projektionen und Stereotypen zu tun. Wie sieht das aus. Du bist ja eine Frau, welche Klischees treffen Dich da, und was ändert das am Umgang der Polizei mit dir? Was hast Du da für Erfahrungen gemacht?
Cécile Lecomte: Du hast,wenn Du kletterst, selten mit weiblichen Polizeibeamten zu tun, das ist klar. Ich hab‘ bisher bei den Klettereinheiten, speziell wegen unserer ganzen Blockaden, mit ausgebildeten Einheiten der Bundespolizei und dem SEK zu tun, und da hab‘ ich nie eine Frau gesehen. Ich bin halt ziemlich bekannt bei manchen Einheiten, ich glaube da gibt es schon eine gewisse Hochachtung vor der sportlichen Leistung. Man hat zwar politisch nicht die gleichen „Interessen“, die einen wollen die Aktion beenden, ich will weitermachen. Aber das kann man auch auf einer menschlichen Ebene höflich lösen, sag ich mal. Es gibt diese Ebene nicht, wenn Du mit dem SEK als Antiterroreinheit zu tun hast, die sind dafür nicht ausgebildet. Sie sind gefährlich. Sie gefährden ihr eigenes Leben bei ihren Einsätzen und achten ebenso wenig auf dein Leben. Vielleicht werde ich, weil ich eine Frau bin, eher als hysterisch abgestempelt, und da wirst Du einfach nicht so ernst genommen. Aber ich weiß nicht, ob es bei Männern so viel anders ist. Man kriegt immer mal wieder zu hören, eine Frau macht so etwas nicht. Es gibt eher das Feindbild Demonstrant. Die Polizei hat von mir das Bild, als eine der wichtigsten und gefährlichsten Castordemonstrantinnen. Da gibt es einfach Vorurteile, die sind eher geschlechtsneutral.

Anabel Jujol: Du bist ja jemand, der keinen Alkohol trinkt, keine Drogen nimmt, nicht raucht und bei aller Kreativität, gerade beim Klettern sehr diszipliniert vorgeht, und damit widersprichst Du ja den Standards. Die klassischen Vorurteile gegenüber Aktivisten sind ja eher anders. Das passt nicht zusammen. Bringt das die Ordnungshüter ein bisschen durcheinander?

Cécile Lecomte: Ja, ich hatte schon ein paarmal Drogenkontrollen mit Blutabnahmen, weil ich ja schwerbehindert bin, weil ich ja chronisches Rheuma habe und viele Tabletten nehmen muss. Es gab immer wieder den Verdacht, das könnte was anderes sein. Dann hieß es: Wir glauben ihnen nicht. Seitdem ich nun einen Schwerbehindertenausweis habe, müssen sie das halt glauben. Aber das passt auch nicht, Du kletterst, Du bist eine Frau und Du bist schwerbehindert dazu. Da sind die immer der Meinung, das muss was anderes sein.

Anabel Jujol: Kommen wir zum nächsten Vorurteil: zum Thema Gewalt. Wer ist wann und wie gewaltbereit? Damit hast Du ja deine speziellen Erfahrungen gemacht. Das gehört ja auch zum Bild des linken Aktivisten, der Castor schottert: die Unterstellung von Gewaltbereitschaft. Inwieweit traut man Dir Gewalt zu?

Cécile Lecomte: Hier spielen Feindbilder eine große Rolle. Gegenüber Demonstranten und ihrer Gewaltbereitschaft, Castor schottern ist da ein gutes Beispiel. Denn da wird im Vorfeld gezielt Stimmung gemacht. Dabei ist die Polizei mit Prügeln richtig krass vorgegangen. Ohne die Feindbilder wäre es vielleicht irgendwie entspannt gelaufen. Vielleicht wären die Leute festgenommen oder weggescheucht, aber nicht so direkt mit Schlagstöcken malträtiert worden. Ich kenne ein paar, die dabei schwer verletzt worden sind. In Deutschland hast Du auch, weil man sich ja den Anschein einer Demokratie immerhin geben will, zwar direkte Gewalt, aber das bleibt verhalten. Das sind Bemerkungen beim Wegtragen, wenn die Polizei dir zu verstehen gibt, jetzt ist die Kamera weg, jetzt solltet Du besser mit laufen, sonst tut‘s weh. Das Verhalten ändert sich, je nachdem wieviel Öffentlichkeit da ist. Öffentlichkeit ist eine Sicherheit, und es gibt sehr viel subtile Gewalt. Die ganzen Griffe, um dir Schmerzen zuzufügen, damit Du mitläufst. Das sind krasse Schmerzen, die sie dir zufügen, aber das ist ja kein Blut vergießen. Das ist subtiler, in Richtung weiße Folter. Als wenn man Dich tagelang einsperrt in einem Keller, dann trägst Du auch keine blutigen Wunden davon, es hat psychische Folgen. Und das ist vorhanden, und zwar nicht nur gegenüber Aktiven aus politischen Bewegungen. Nur als politischer Mensch, dessen Fall vielleicht öffentlich wird, oder als einer, der wie ich mit diesem Buch Öffentlichkeit schafft, hast Du andere Möglichkeiten, das bekannt zu machen. Ich schreibe in meinem Buch über meinen persönlichen „K(n)astor-Transport“ in die JVA, weil ich einmal in der Justizvollzugsanstalt war, und da habe ich mich auch als Sprachrohr gesehen, um Informationen von Innen nach Außen zu bringen. Weil keiner sonst weiß, wie es dort läuft, und alles im Verborgenen bleibt. Die meisten Menschen haben nicht die Fähigkeit oder die Möglichkeit, das zum Ausdruck zu bringen, aber es ist wichtig. Ich bin sicher, wenn Du die falsche Hautfarbe hast, reicht das, um auch so etwas zu erleben, es muss nicht ein politisches Engagement dahinter sein.

Anabel Jujol: Deshalb hatte ich eingangs das Thema Sprache erwähnt, weil Du eine sehr gute Fähigkeit hast, Deine Erlebnisse in Worte umzuwandeln und dabei mit Ironie und Spitzfindigkeiten die Ungerechtigkeiten anschaulich zu machen.

Cécile Lecomte: Das ist auch der Grund, warum ich das Buch geschrieben habe. Ich habe mit losen Texten angefangen, und die immer mal wieder bei Vorträgen, die ich seit Jahren zum Beispiel zum Thema „Widerstand: Vernetzung mit Frankreich“ halte, und ich hab festgestellt, dass die Texte, die ich schreibe, sehr gut ankommen. Das hat mich dazu motiviert, ein Buch daraus zu machen, einen Verleger zu suchen. Es lag nahe, das beim Verlag Graswurzel revolution zu machen, weil es ein selbstverwalteter Verlag ist, in dem ich auch tätig bin, wo alle ehrenamtlich arbeiten, und das passt auch sehr gut. Ich will nicht, dass Politik oder Kultur kommerziell werden.

Anabel Jujol: Gehen wir mal weg von der Sprache und kommen zu den Bildern. Da hast Du ja auch einen schönen Spannungsbogen bei den Lesungen, indem Du erst dieBilder im Kopf entstehen lässt über die Sprache und dann mit echten Bildern das Publikum konfrontierst. Du bist ja selbst auch mit echten Bildern konfrontiert worden, mit besonderer Wirkung, als Du im Polizeigewahrsam untergebracht warst. Das war gestern bei der Lesung für viele sehr eindrucksvoll. Man hörte im Publikum ein Raunen und es fiel eben dieser Begriff von „weißer Folter“. Kannst Du beschreiben, was auf den Bildern zu sehen ist?

Cécile Lecomte: Ja, und ich hörte auch: „Das kann doch nicht wahr sein“, als ich den Text gelesen habe, und als die Bilder gezeigt wurden. Doch das ist wirklich wahr. Das war im Braunschweiger Polizeige wahrsam. Es gab dort eine Ausstellung über Polizeiarbeit mit anschaulichen Bildern, mit Titeln wie „die Durchsuchungsecke“ und ähnlichem. Die Bilder stammten direkt aus dieser Anstalt, waren dort aufgenommen. Man sah, das sind die gleichen Zellen, wie die, in denen man selbst ein gesperrt ist. Da sah man zum Beispiel Menschen, die an Händen und Füßen gefesselt liegen, und dazu eine Bildüberschrift: „Auf die laterale Position achten“. Diese Bilder waren bei uns im Gewahrsamstrakt aufgehängt. Das nächste Bild war kein Bild, sondern eine Delle in der Wand, mit einem schönen Holzrahmen rund herum. Und es trug die Überschrift „Kopfstoß gleich kopflos“. Und Du fragst dich, welchen Kopf sie da gegen die Wand geknallt haben. Das ist natürlich eine Einschüchterung. Ich hab im Buch ironisch beschrieben, dass die Beamten sogar Humor haben. Ironie ist für mich eine Möglichkeit, mit solchen krassen Sachen umzugehen, wie soll ich sonst damit umgehen, darüber weinen? Das ist keine ansprechende Ebene der Vermittlung nach außen, glaube ich, darum benutze ich sehr gerne Ironie, um solche makabren Sachen öffentlich zu machen. Also sage ich lieber, die Beamten hätten total coolen Humor.

Anabel Jujol: Das hilft natürlich auch, um sich seine Würde zu bewahren.

Cécile Lecomte: Mir tut es gut, dass die Menschen genauso reagieren wie ich, dass sie sagen, das geht doch gar nicht. Das Verfahren ist jetzt vor dem europäischen Gerichtshof anhängig. Mal sehen, was sie zu dieser Art von Folter sagen, denn eigentlich geht es um deren Richtlinien.

Anabel Jujol: Viele Menschen empfinden die Internetüberwachung schon als sehr bedrohlich. Du hast dagegen direkte Erfahrung gemacht mit Überwachung. Das können sich so manch andere gar nicht vorstellen. Kannst Du darüber was erzählen?

Cécile Lecomte: Ja, da gibt es ein paar Kurzgeschichten im Buch dazu. Es gibt mehrere Vorfälle. Für eine „Vielleicht Ordnungswidrigkeit“, hatte man zum Beispiel 2006 beschlossen, mich im Vorfeld zu überwachen, und zwar mit mobilen Einsatzkommandos, Tag und Nacht. Ein Jahr später hatte ich Akteneinsicht: eine schöne Tabelle, auf der ich lesen konnte, welches mobile Einsatzkommando zuständig war und so weiter, das war zwar rechtswidrig, aber was hilft dir ein Blatt Papier zwei Jahre danach, auf dem drauf steht, das war rechtswidrig? Neben der Gefahrenabwehr, gibt es die sogenannte Gefährderansprache, Sagen wir, die Polizei klingelt bei dir und will mit dir reden, und hält eine Ansprache im Sinne von: Wir haben sie im Auge, wir wissen, Sie sind an der Demo XY beteiligt, Sie sind potentiell gewaltbereit, wir möchten Sie überreden von der Gewalthandlung abzusehen: Das ist das Konzept der Gefährderansprache. Im Rahmen so einer Gefährderansprache wurde ich von zwei eifrigen Polizeibeamten, die mich erkannt hatten, spontan am Bahnsteig in den Zug nach Hamburg begleitet, weil ich mit meiner Kletterausrüstung privat unterwegs war. Es ist auch immer die Frage, was Du für möglich hältst oder auch nicht, also ich habe viele Dinge erstmal nicht für möglich gehalten, dass man ohne Vorwurf mehrere Tage festgehalten werden kann, oder dass die Polizei Dich einfach so im Zug begleitet.

Anabel Jujol: Bleiben wir beim Thema Bewegungsfreiheit. Du magst es ja Dich vertikalzu bewegen. Was hat Bewegungsfreiheit in einer Stadt mit Kürzungen und Privatisierung zu tun?

Cécile Lecomte: Ich bin der Meinung, es wird immer mehr öffentlicher Raum privatisiert. Ein Beispiel aus Lüneburg, wo ich wohne, selbst die Straßenlaternen sind an E.ON verkauft worden, also Du bist auf dem Gehsteig, und der ist nicht komplett öffentlich. Ich finde wichtig, die Privatisierung von öffentlichen Räumen durch Aktionen, die ein bisschen auffallen, sichtbar zu machen, und wenn ich gerade Bock habe, Schaufenster vertikal zu bummeln statt horizontal, dann warum nicht, es ist immer interessant zu experimentieren und zu gucken, wie die Menschen, die Staatsmacht, darauf reagieren. In dem konkreten Fall in Frankfurt hatte ich ein Transparent in Bettlakengröße, darauf stand „Kapitalismus auf der Nase herum tanzen“. Das hat aus der Entfernung am Hochhaus am zehnten Stock hängend keiner lesen kön nen, aber die Polizei hat mein Transparent auf der Wache fotografiert und selber eine Pressemitteilung geschrieben im Stil von: Eine junge Französin kletterte an der Fassade X und hat dabei das Transparent zitiert. Deshalb stand meine Kapitalismuskritik direkt in der Zeitung, ohne dass jemand wirklich live das Transparent gelesen hat. Das finde ich sehr interessant, wie man subversiv seine Inhalte einbringen kann. Ich schreibe dann Leserbriefe, die meine Aktion erklären, und erhalte in Lüneburg immerhin eine halbe Seite für meine persönliche Kapitalismuskritik. Wobei ich nicht einmal das Wort Kapitalismus verwenden muss. Ich muss nur meine Gesellschaftskritik anschaulich formulieren, und die kann man sehr gut nachvollziehen, und die Zeitung hat die auch sehr gut verstanden, weil der Leserbrief, das war nicht meine Überschrift, die hatten getitelt: Klettern ist subversiv! Und das ist auch politisch sehr gut, viele Menschen haben Vorurteile und sagen „Kapitalismus? Da blocke ich ab“, aber wenn man statt das Wort zu verwenden die Idee erläutert, die dahinter steckt, warum man das kritisiert, was man statt dessen haben will, dann bekommt man mehr Zustimmung, regt zum Nachdenken an, und die Menschen reagieren offen auf die Kritik. Ich finde, das ist wichtig in der Kommunikation nach außen, diese Stereotypen abzubauen und einen offenen Dialog anzustoßen. Ich verlange nicht, dass alle Menschen meiner Meinung sind, das wäre ja langweilig, aber ich will, dass die Menschen nachdenken. Das ist das Ziel des Buches, das ist das Ziel der Aktion.

Anabel Jujol: Alle reden von der Energiewende. Ist der Begriff Atomstaat noch zeitgemäß? Wie relevant ist für uns hier in Essen (am Hauptsitz von RWE) und im Ruhrgebiet der Begriff „Atomstaat“ aus deiner Sicht?

Cécile Lecomte: Ich verwende durchaus bewusst den Begriff Atomstaat, auch aus historischen Gründen. Als das Atomstromprogramm ursprünglich gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt wurde, gab es die Gleichsetzung Atomstaat = Polizeistaat. Das gehtzurück auf Robert Jungk. Wer mein Buch liest, muss zu dem Schluss kommen: Du wirst zum Staatsfeind, wenn Du dich gegen solche Energieriesen protestierend wendest, ob Atom- oder Kohlekraft. In beiden Fällen handelt es sich um große zentralisierte Konzerne zur Erschließung von Energiequellen, die ohne Subventionen, ohne Steuerung durch den Staat, gar nicht funktionieren könnten. Da gibt es einfach staatliche Interessen, die dahinter stehen, und wer dagegen angeht, wird gleich als Staatsfeind gesehen. Der Begriff Atomstaat beschreibt einfach eine gewisse Realität. Und ich benutze diesen Begriff auch als Provokation, wenn Menschen ständig vom Atomausstieg reden und der Energiewende, wobei ich das Gefühl habe, dass es ein politisch geschönter Begriff ist, eine klassische Mogelpackung, denn was ist drin? Wir haben in NRW die Urananreicherungsanlage, die weiter laufen darf und zwar unbefristet, deren Erweiterung damals durch Rot-Grün 2004 mit der Unterschrift von Trittin genehmigt wurde. Ich hab das Gefühl, dass da von Parteipolitik nichts zu erwarten ist. Ich habe eher den Eindruck, den Parteien geht es vielfach nur um machtpolitische Interessen und nicht mehr um die Ideen, die dahinter stecken. Hannelore Kraft hat sich vehement in der neuen Koalition für die Kohlekraft in NRW eingesetzt. So kann man auch nicht von Energiewende reden. Kohlekraft gefährdet auch unsere Gesundheit und das Klima. Energiewende kann nicht bedeuten, Atomkraft durch Kohlekraft zu ersetzen. Vor allem gibt es diesen Bedarf auch gar nicht. Die Abschaltung von AKW‘s (Beispiel Krümmel) hat nicht plötzlich dazu geführt, dass Menschen keinen Strom mehr hatten. Brauchen wir überhaupt soviel Energie? Es führt zur selben Fragestellung wie bei der Kritik von Kapitalismus und Privatisierung. Wir brauchen eine andere Art von Gesellschaft. Keine Gesellschaft,die auf immer mehr Kaufanreize, Werbung und wachsenden Konsum setzt. Es kann so nicht weiter gehen. Ich bin für Schrumpftum statt Wachstum. Das beinhaltet auch eine andere Gesellschaft und einen anderen Umgang mit Energie. Die beste Kilowattstunde ist eine, die Du erst gar nicht produzieren musst. Erneuerbare Energien haben ein großes Potenzial und den Vorteil, dass sie, wenn man es klug macht, dezentral gebaut werden können. Es muss nicht so über die Köpfe der Menschen entschieden werden. Aber es muss in der Bevölkerung auch eine Bereitschaft geben, anders zu leben, ob diese vorhanden ist, weiß ich nicht, aber es ist Teil meines politischen Kampfes zu sagen: „Hey, wir fahren gegen die Wand“. Es gibt derzeit Kriege um Ressourcen, Erdöl etc., das scheint weit weg, denn wir haben es hierzulande nicht, deshalb haben wir diese Kriege hier nicht. Aber je knapper die Ressourcen der Erde werden, um nicht er neuerbare Energien und Rohstoffe, desto näher wird der Krieg um Ressourcen heranrücken. Wir fahren gegen die Wand, denn irgendwann sind die Ressourcen zu Ende. Vielleicht betrifft das noch nicht unsere Generation, sondern die zukünftige. Wir müssen kontrolliert, wirtschaftlich gesehen, schrumpfen. Eine energiebezogene gesellschaftliche Veränderung könnte sein, Energienetze in Bürgerhand zu bringen. Dazu gab es ja in mehreren Städten Bürgerentscheide. In Hamburg wurde knapp gewonnen. Das ist schon eine Aussage, weil ja die Bürgerinitiativen nicht über die gleichen Mittel verfügen wie Vattenfall etc. und die etablierten Parteien, die gegen den Rückkauf der Netze waren. Ob der Hamburger Senat den Entscheid vernünftig umsetzt, das werden wir ja sehen, aber es wäre ein erster Schritt.

Anabel Jujol: Liebe Cécile, vielen Dank, dass Du dir die Zeit für uns genommen hast. Wir wünschen Dir weiterhin viel Erfolg auf Deiner Lesereise und natürlich bei Deinen Aktionen. Und bei Deiner nächsten Gerichtsverhandlung im Ruhrgebiet sind wir wieder dabei

Nachtrag:

Protest-Aktion in Essen gegen E.ON und die Folgen
Mit Transparenten gegen Kohleschmutz und Atomkraft begrüßen am 3. Mai 2012 Umweltaktivisten die Aktionäre von E.ON zur Hauptversammlung in der Messe Essen. Umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen sollen jede Störung der Veranstaltung verhindern. Neben Kameraüberwachung und Einsatz von privaten Sicherheitskräften unterstützt ein Polizeiaufgebot in Kampfmontur die Interessen des Konzerns gegen die Bürgerproteste. Obwohl das gegen geltendes
Recht verstößt, untersagen die Polizisten das Verteilen von Flyern auf dem Messevorplatz und im U-Bahn-Bereich mit der Begründung, E.ON hätte Hausrecht. Als die Kletteraktivistin Cécile Lecomte ihre Klettergurte anlegt und sich anschickt auf einen Baum zu steigen, um ein Transparent aufzuhängen, wird sie sofort von der Polizei verhaftet. Die Beamten gehen nicht gerade zimperlich mit der jungen Frau um, packen fest zu und fügen der an Rheuma erkranken Cécile starke Schmerzen am offensichtlich bandagierten Handgelenk zu. Trotz ihrer Schmerzensschreie lockern sie nicht ihren Griff. Im Polizeiwagen erleidet sie einen Kreislaufzusammenbruch und wird in ein Krankenhaus gebracht, das sie gegen 16.00 Uhr verlassen kann, zum Glück wieder wohlauf. In der Folge erstattet einer der Polizisten Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen Cécile. Ein weiterer Vorwurf lautet, wie nicht anders zu erwarten: Widerstand gegen die Staatsgewalt. Der Prozess findet am 10. Juli im Amtsgericht Essen statt. Solidaritätsaufrufe im Internet erreichen, dass kurzfristig einige Sympathisanten im Publikum sitzen und sich ein Bild vom Umgang der Justiz mit der Aktivistin machen können. Es gleicht einer Farce: Die Richterin ist mit den einfachsten Grundlagen der Versammlungsfreiheit nicht vertraut. Zur Anhörung des „verletzten“ Polizisten kommt es erst gar nicht. Es kommt zu einer kurzen informellen Unterhaltung vor Gericht über vertikalen Protest und Anmeldung von Versammlungen in Kubikmetern. Der Staatsanwalt erkennt immerhin an: Widerstand ist nur dann strafbar, wenn die Polizei rechtmäßig gehandelt hat (§113 Abs. III StGB).
Anschließend bieten Richterin und Staatsanwalt wahlweise eine Vertagung des Verfahrens bis zu einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die Rechtmäßigkeit der damaligen polizeilichen Maßnahmen oder eine Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit gegen die Zahlung von 150,00 Euro an einem gemeinnützigen Verein als Auflage (§153a StPO) an. Das „Eichhörnchen“ beschließt es dabei zu belassen, da der Aufwand der Anreise aus Lüneburg für eine erneute Verhandlung unverhältnismäßig wäre. „Ich hätte um einen Freispruch kämpfen können, es war mir jedoch den Aufwand nicht wert, für eine Schürfwunde und das Baumklettern wieder die weite Anreise aus Lüneburg auf mich zu nehmen“, so die Angeklagte. „Meine Zeit stecke ich lieber in weitere kreativ-subversive Aktionen gegen die tödlichen Geschäften der Kohle- und Atomkonzerne.“

Die Klage der Kletteraktivistin gegen die PolizistInnen, die sie festnahmen und verletzten, soll in den nächsten Monaten (oder Jahren?) vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen verhandelt werden.

Das Interview als PDF im Essener Morgen:
http://www.dielinke-essen.de/fileadmin/kvessen/Essener%20Morgen/Archiv_EM_2014/2014-01%20EssenerMorgen-12.03.14.pdfZur Person: Cécile Lecomte
Die heute 32jährige wird in den Vogesen geboren. Ihre Mutter nimmt sie als Kind regelmäßig mit auf Klettertouren und zu ersten Demos. Später kommt sie im Rahmen des Erasmusaustauschs nach Deutschland und wird selbst Lehrerin. Sie studiert in Erlangen und Bayreuth Fremdsprachen und internationale Wirtschaft. Ihren Abschluss macht sie in Frankreich. Eine sportliche Laufbahn krönt sie mit der Auszeichnung als französische Jugendmeisterin im Sportklettern. Sie bleibt nach dem Studium in Deutschland und macht zunächst Straßentheater, um später Klettern und kreativen Protest zu verbinden, beteiligt sich in Gruppen oder im Alleingang an zum Teil waghalsigen oder nur lustig-provozierenden Protestaktionen. Sie selbst nennt das den „Ätsch“-Faktor, wenn Zuschauer und Polizisten sich die Frage stellen: „Warum hängt die da“. Seit 2005 lebt Cécile mit ihrem Freund auf einem Wagenplatz in Lüneburg. Sie ernährt sich vegetarisch und zum Teil vom Containern. Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie aus Spenden.
Literaturtipp: Cécile Lecomte: Kommen Sie da runter! Kurzgeschichten und Texte aus dem politischen Alltag einer Kletterkünstlerin, Verlag Graswurzelrevolution, 189 Seiten, mit DVD, 16,90 Euro,
ISBN 978-3-939045-23-6.

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